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Valproat in der Schwangerschaft: eine neue Studie wirft Fragen auf. agfam hat mit zwei Studienautorinnen gesprochen.

Im Januar 2021 wurde im Swiss Medical Weekly eine Studie (Referenztext 1) publiziert, welche die Anwendung von Valproat und anderen Antiepileptika bei schwangeren Frauen und Frauen im gebärfähigen Alter in der Schweiz zwischen 2014 und 2018 analysiert. Das Resultat lässt aufhorchen. In der Fachwelt ist seit 3 Jahrzehnten bekannt, dass Valproat ein erhöhtes Risiko für Fehlbildungen birgt, und seit ca. 10 Jahren ist auch das Risiko für Entwicklungsstörungen gut belegt.

 

Zudem hat die Heilmittelbehörde Swissmedic 2015 die Ärzte- und Apothekerschaft vor dieser Gefahr gewarnt. Dennoch erhielten im untersuchten Zeitraum hochgerechnet auf die ganze Schweiz rund 80 schwangere Frauen das für das ungeborene Kind gefährliche Valproat. Weitere 50 Frauen bezogen den Wirkstoff bis zum Beginn der Schwangerschaft, wobei unklar ist, ob während den ersten kritischen Wochen der Schwangerschaft, in der die Organogenese stattfindet, eine Exposition stattgefunden hat oder nicht. Dies ist höchst problematisch, da Valproat den Embryo schon in den ersten Tagen der Schwangerschaft schädigen kann. Wie sind diese Ergebnisse zu deuten und welchen Beitrag können Apotheker*innen leisten, um  die Sicherheit im Bereich des Arzneimittelgebrauchs in der Schwangerschaft zu erhöhen?

 

agfam durfte mit zwei der an der Studie beteiligten Autorinnen sprechen, der Erstautorin Dr. phil. Julia Spoendlin (JS) und einer der Co-Autorinnen, Dr. phil. Marlene Rauch (MR). Beide sind Apothekerinnen und forschen in der «Basel Pharmacoepidemiology Unit» an der Uni Basel und dem Universitätsspital Basel. Marlene Rauch arbeitet zudem im Teilpensum bei agfam und engagiert sich somit auch in der Fort- und Weiterbildung von Apothekenmitarbeiter*innen.

 

agfam: Eure Studie trifft einen Nerv. Die Ergebnisse wurden sogar in der Sonntagszeitung aufgegriffen.  Was sind die Hintergründe dieser Studie?

 

MR: Der Hintergrund der Studie war die Tatsache, dass die einzigen Schweizer Daten, die bisher über die potentielle Problematik des Valproatgebrauchs in der Schwangerschaft veröffentlicht wurden, vom Spontanmeldesystem (Pharmakovigilance) der Swissmedic stammten. Nachdem in den letzten Jahren europaweite Diskussionen über die Problematik des (zu hohen) Valproatgebrauchs während der Schwangerschaft geführt wurden, hat die Swissmedic vor ungefähr einem Jahr einen Bericht veröffentlicht, der festhielt, dass ihnen zwischen 1990 und 2018 «lediglich» 39 Fälle von Fehlbildungen und/oder Entwicklungsstörungen bei Kindern in Assoziation mit Valproatgebrauch während der Schwangerschaft gemeldet wurden. Die meisten davon lägen weit zurück und die letzte Meldung stamme aus dem Jahr 2014, also ein Jahr, bevor Swissmedic die oben angesprochene Warnung rausgab.  Nun wissen wir, dass das Problem dieser Spontanmeldesysteme ist, dass jemand (sei dies die betroffene Person selbst oder eine sie betreuende medizinische Fachperson) den Verdacht auf eine unerwünschte Arzneimittelwirkung melden muss. Wir wissen, dass dies bei potentiell medikamentenassoziierten Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen lediglich in ca. 10% der Fälle passiert und dass deswegen die Dunkelziffer der Valproat-assoziierten (wie auch anderen medikamentenassoziierten) Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen wahrscheinlich hoch ist. Gerade bei Entwicklungsstörungen, die erst Jahre nach der Schwangerschaft stattfinden, ist es sowohl für betroffene Personen wie auch für medizinische Fachpersonen schwierig, den potentiellen Link zu einer Medikamentenexposition in der Schwangerschaft zu machen.

 

JS: Um zu quantifizieren, wie viele schwangere Frauen oder Frauen, die potentiell schwanger werden können, überhaupt mit Valproat therapiert wurden in den letzten Jahren, haben wir diese Studie mit Daten der Krankenversicherung Helsana durchgeführt. In diesen Daten kann man sowohl schwangere Frauen und Frauen im gebärfähigen Alter identifizieren wie auch sehen, was den Versicherten verschrieben wurde. Wir hatten uns schon länger mit der Thematik der Arzneimittelexposition während der Schwangerschaft in der Schweiz beschäftigt. Im Vergleich zu anderen Ländern ist der Medikamentengebrauch während der Schwangerschaft in der Schweiz sehr schlecht untersucht. Wir wissen bis heute eigentlich nicht, welche Medikamente wie häufig angewendet werden. Um dies zu ändern sind wir dabei, unabhängig von dem Medienrummel um Valproat, in Zusammenarbeit mit einer Forschungsgruppe aus Lausanne und Bern, eine Studienkohorte von schwangeren Frauen in der Abrechnungsdatenbank der Helsana zu erstellen. Somit war es für uns die logische Konsequenz, hier einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Diskussion zu leisten.

 

agfam: Was waren eure Gedanken, als Ihr diese Daten analysiert habt? Hattet Ihr diese Ergebnisse erwartet?

 

MR: Wir haben erwartet, dass die Exposition mit Valproat in der Schwangerschaft um einiges höher ist als diese 39 Fälle, die vom Spontanmeldesystem der Swissmedic aufgegriffen wurden in den Jahren 1990 bis 2018. Einerseits aus den genannten Limitationen bezüglich der Spontanmeldesysteme (die Anzahl der tatsächlich Exponierten kann nicht erfasst werden), andererseits, weil es bereits andere europäische Daten gab zur Exposition von schwangeren Frauen oder Frauen im gebärfähigen Alter mit Valproat, die auf eine viel grössere Problematik hinwiesen. Ich war trotzdem erstaunt, dass trotz der in der Fachliteratur sein Jahrzehnten bekannten teratogenen und Entwicklungsstörungen hervorrufenden Eigenschaften von Valproat und nach diversen Warnungen über die Gefahr einer Valproatanwendung in der Schwangerschaft der FDA (im Jahr 2011), der EMA (im Jahr 2014) und der Swissmedic (im Jahr 2015) unsere Resultate darauf hinweisen, dass in den Jahren 2014 bis 2018 in der Schweiz noch immer 80 schwangere Frauen (1.9/10'000 Schwangerschaften) mit Valproat exponiert waren und weitere 50 (1.3/10'000 Schwangerschaften) bis zu Beginn der Schwangerschaft mit Valproat therapiert wurden. Gerade letzteres ist erstaunlich, denn bei Kinderwunsch müsste zuerst auf eine alternative, sicherere Medikation umgestellt und eine Therapiestabilität erreicht werden, bevor die Empfängnisverhütung abgesetzt wird. 

 

Dies gesagt, hatten wir in den Daten leider keine Information zur Indikation von Valproat zur Verfügung und es gibt tatsächlich Epilepsieformen, die nur mittels Valproat behandelt werden können. Somit ist Valproat in der Schwangerschaft kontraindiziert, es sei denn, die schwangere Frau hat eine bestimmte Epilepsieform und gehört zu den 5-15% der PatientInnen mit dieser Epilepsieform, die nur mittels Valproat erfolgreich therapiert werden kann. Wir haben mittels Berechnungen geschätzt, dass 0.3-1.5/10,000 Schwangerschaften von einer solchen Situation betroffen sein dürften. Die 1.9/10’0000 Schwangerschaften, die wir gesehen haben, deuten also darauf hin, dass auch schwangere Frauen, für die es eine medikamentöse Alternative gegeben hätte, mittels Valproat therapiert wurden. Für mich persönlich frappierend war aber insbesondere, dass in den Jahren 2014 bis 2018 noch immer 21-28/10'000 Frauen im gebärfähigen Alter Valproat verschrieben wurde, obschon wir schätzen, dass nur 0.3-1.7/10,000 dieser Frauen wirklich Valproat zur Anfallskontrolle bräuchten. Klar kann man behaupten, dass diese Frauen ausführlich über die Notwendigkeit einer sicheren Verhütung aufgeklärt wurden, aber Fakt ist, dass man selbst bei guter Aufklärung und vermeintlich guter Verhütung schwanger werden kann. 

 

JS: Es gab nie einen Grund anzunehmen, dass Valproat in der Schweiz unterschiedlich verschrieben wird als in anderen europäischen Ländern. Somit haben mich unsere Resultate auch nicht überrascht. Für mich ist jedoch bemerkenswert, dass die Schweiz bis anhin keinen Fokus auf die Verwendung von elektronischen Datenbanken gesetzt hat und somit der Gebrauch von kritischen Medikamenten wie z.B. Valproat in der Schwangerschaft, aber auch von vielen anderen Arzneimitteln in vulnerablen Patienten weitgehend unbekannt ist. Viele andere westeuropäische und nordamerikanische Länder haben das Potential solcher Datenbanken erkannt und verwenden diese seit Jahrzehnten um den nationalen Gebrauch von Arzneimitteln routinemässig zu überwachen. Dies wird oft von staatlicher Seite koordiniert und unterstützt. Ich hoffe, dass wir mit unserer Studie den Nutzen solcher Studien aufzeigen konnten und dass wir auch in der Schweiz vermehrt solche Studien durchführen werden, um den Gebrauch von Arzneimitteln zu untersuchen. Schlussendlich kann man Probleme erst dann lösen, wenn man sie kennt.  

 

agfam: 80 schwangere Frauen, also 16 pro Jahr im Durchschnitt, das klingt für mich erschreckend viel. Und jedes einzelne Schicksal ist natürlich tragisch. Doch man muss vielleicht die Zahl in Relation stellen mit der Anzahl schwangeren Frauen die jährlich in der Schweiz mit Antiepileptika behandelt werden. Könnt Ihr dazu etwas sagen?

 

MR: Das stimmt, und wie wir schon gesagt haben, gibt es Frauen, für die es keine alternative Therapieoption gibt. Wir konnten mit unseren Daten hochrechnen, dass in ca. 1600 Schwangerschaften zwischen 2014 und 2018 die Antiepileptika Lamotrigin, Levetiracetam, Pregabalin, Carbamazepin, Topiramat oder Valproat verschrieben wurden. Die meisten schwangeren Frauen wurden mit Lamotrigin (in ca. 770 Schwangerschaften verschrieben) und Levetiracetam (in ca. 430 Schwangerschaften verschrieben) behandelt, für die es in der Epilepsiebehandlung von schwangeren Frauen keine sichereren Alternativen gibt. 

Wie Du es aber richtig sagst- die Folgen einer Exposition mit Valproat während der Schwangerschaft, wie übrigens auch mit anderen teratogenen oder Entwicklungsstörungen verursachenden Medikamenten wie z.B. Isotretinoin, sind so schwerwiegend, dass jeder vermiedene «Fall» ein vermiedenes schweres persönliches Schicksal ist. Das Leid von Familien, deren Kinder an medikamentenassoziierten Fehlbildungen oder Entwicklungsstörungen leiden, ist immens, wie immer mehr Medienberichte von betroffenen Familien eindrücklich zeigen. Auch das Leid, welches bei betroffenen Frauen und deren Familien ausgelöst wird durch eine ungeplante Schwangerschaft, die dann auf Grund der Angst vor den potentiellen Folgen einer solchen Medikamentenexposition abgebrochen wird oder in einem Spontanabort endet, dürfen wir nicht vergessen. Die Anzahl Schwangerschaften, die exponiert waren mit Valproat und in einem Schwangerschaftsabbruch resultierten, konnten wir nämlich mit unserer Studie gar nicht beziffern, da wir keine Angaben hatten zu Frühaborten und Schwangerschaftsabbrüchen.

 

JS: Dem schliesse ich mich absolut an und möchte nur noch etwas ergänzen. Ein wichtiger Punkt ist, dass wir in den Abrechnungsdaten der Helsana keine zuverlässigen Angaben zur verschriebenen Dosis der bezogenen Antiepileptika haben. Es ist bekannt, dass das Risiko für Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen unter Valproat stark dosisabhängig ist. Das soll das Problem natürlich nicht verharmlosen, aber es ist uns auch bewusst, dass die Therapie einer Epilepsie sehr komplex ist und in Einzelfällen kann es sein, dass eine tiefdosierte Therapie mit Valproat durch die Spezialisten als die geeignetste/einzig mögliche medikamentöse Therapie, auch während der Schwangerschaft, eingestuft wird. Dies darf aber natürlich nur nach ausführlicher Aufklärung und im Einverständnis der Patientin geschehen. Solche Detail-Informationen stehen uns aber in der Abrechnungsdatenbank nicht zur Verfügung und müssen im Einzelfall abgeklärt werden.

 

agfam: Man kann es im Swiss Medical Weekly genau nachlesen aber vielleicht könnt Ihr kurz erläutern, woher die Daten kommen, die Ihr analysiert habt? Wie aussagekräftig sind sie? Ist es vielleicht nur die Spitze des Eisbergs? 

 

MR: wir benutzten Daten der Krankenversicherung Helsana. Helsana versichert ca. 15% der in der Schweiz krankenversicherten Personen. Krankenversicherungsdaten sind die einzigen in der Schweiz verfügbaren Daten, die repräsentativ sind bezüglich dem Bezug von mit der Krankenkasse abgerechneten Medikamenten (wie z.B. Antiepileptika) durch die Allgemeinbevölkerung. Die Daten sind aussagekräftig, weisen aber wie alle Datenbanken, die nicht zu Forschungszwecken generiert wurden, sondern als «Nebenprodukt» für Forschungszwecke gebraucht werden, gewisse Limitationen auf. Unsere Resultate sind insbesondere limitiert durch die Tatsache, dass wir die Indikation für die Antiepileptika nicht kannten und somit nicht eruieren konnten, ob die Verschreibungen klinisch absolut notwendig waren, sprich, ob es keine sicherere Alternative gegeben hätte. Ein Beispiel: hätten wir gesehen, dass Valproat während der Schwangerschaft zur Behandlung von bipolaren Störungen eingesetzt wurde, wäre dies schlichtweg ein Behandlungsfehler gewesen da kontraindiziert bei dieser Indikation. Da es aber gewisse Epilepsieformen gibt, die nur mittels Valproat erfolgreich behandelt werden können, lässt uns dies im Ungewissen, ob die Behandlungen in den Einzelfällen gerechtfertigt waren. Unsere Schätzungen weisen aber relativ deutlich darauf hin, dass zu viele Frauen im gebärfähigen Alter mit Valproat behandelt werden, deren Indikation mittels (bzgl. einer eintretenden Schwangerschaft) sichererer medikamentösen Alternativen behandelt werden könnte. 

 

JS: Dem schliesse ich mich an. Ich denke, unsere Studie gibt einen ziemlich guten Überblick über den Gebrauch von Antiepileptika in der Schwangerschaft, und bildet nicht nur die Spitze des Eisberges ab (wie dies Spontanmeldesysteme in der Regel tun). Wie Marlene jedoch gesagt hat, hat natürlich auch unsere Studie Limitationen, wie das Fehlen der Diagnosen oder der Dosierungen. Hier möchte ich zudem nochmals betonen, dass die genannten 80 mit Valproat exponierten schwangeren Frauen in der Schweizer Bevölkerung aus der Versichertenpopulation des Helsana-Kollektivs hochgerechnet sind. Die Helsana versichert etwa 15% der Schweizer Bevölkerung. Der Prozess der Hochrechnung wurde zuvor untersucht und ist ziemlich exakt, aber wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass die Versicherten der Helsana Krankenkasse, die ja eher zu den teureren Krankenkassen gehört, in sämtlichen sozioökonomischen Aspekten, exakt repräsentativ ist für alle Versicherten der Schweiz. Solche Unsicherheiten zusammen mit einer gewissen statistischen Variabilität die immer vorhanden ist, führt dazu, dass die Zahl von 80 exponierten schwangeren Frauen nicht absolut gesehen werden kann. Es können durchaus auch nur 70 oder aber auch 90 schwangere Frauen in der Schweizer Bevölkerung exponiert gewesen sein. Das ist jetzt mehr ein technischer Aspekt, und ändert nichts an der Kernaussage. Ich merke dies einfach gerne an, wenn so genaue Zahlen genannt werden. 

 

agfam: Wie ist es möglich, dass seit 2014 Swissmedic kein Fall von valproatbedingten Missbildungen gemeldet wurde?

 

MR: Das ist eine sehr gute Frage, die ich Dir leider nicht beantworten kann. Wenn man die Berichte von betroffenen Familien liest, war es manchmal der Fall, dass ihnen selbst nicht bewusst war, dass ihre Kinder wegen Valproat eine Fehlbildung oder eine Entwicklungsstörung aufwiesen. Dies, weil ihnen laut den Berichten die Gefahr des Valproatgebrauchs während der Schwangerschaft nicht kommuniziert wurde und sie deswegen teils sogar zwei Kinder mit Valproatsyndrom zur Welt brachten und erst viel später diese Korrelation überhaupt feststellten. Dies ist schwer nachzuvollziehen, da wissenschaftlich schon lange bekannt ist, dass Valproat solche schädigenden Wirkungen auf das ungeborene Kind haben kann und jede Frau im gebärfähigen Alter unbedingt darüber im Detail und an verschiedenen Stellen (von den behandelnden Ärtz*innen wie auch von den Apotheker*innen, wenn Klientinnen ein Rezept in der Apotheke einlösen) darüber informiert werden müsste. Wie bereits gesagt, ist es bei nicht offensichtlichen und verzögert auftretenden Entwicklungsstörungen natürlich manchmal für die betroffenen Familien auch schwierig, den Link zu einer Medikamentenassoziation während einer lange zurückliegenden Schwangerschaft zu machen. Trotzdem kann ich diese grosse Diskrepanz bzgl. unseren Resultaten und den Fällen, die der Swissmedic gemeldet wurden, nicht erklären.

 

JS: ich kann mir das auch nicht gänzlich erklären, aber ich denke es zeigt einmal mehr auf, dass Spontanmeldesysteme solche Probleme nicht systematisch erfassen und wir auf weitere Informationsquellen angewiesen sind. Es könnte eine Rolle spielen, dass in der Literatur Entwicklungsstörungen zwischen 2010 und 2013 erstmals klar mit einer in utero Valproat Exposition assoziiert wurden. Bei Spontanmeldewesen ist es ein bekanntes Problem, dass die Bekanntmachung von neuen UAWs eines Medikamentes in der Fachwelt eine ‘Melde-Welle’ auslöst, da die Ärzte und Apotheker auf das Problem aufmerksam gemacht werden. Diese flacht danach wieder ab. Im Bericht von Swissmedic wurde erwähnt, dass viele gemeldeten Entwicklungsstörungen bereits Jahre zurückliegen, sprich sie traten auf bevor das Problem in der Fachwelt klar erkannt war und wurden dann alle auf einmal gemeldet. 

 

agfam: Wurden die betroffenen Frauen, bei denen die Anwendung von Valproat alternativlos war, über die Risiken des Arzneimittels in der Schwangerschaft informiert?

 

MR: Dies können wir anhand unserer Daten leider nicht eruieren. 

JS: Es ist sehr wichtig, dass in einem nächsten Schritt die Gründe und Umstände dieser Verschreibungen sauber abgeklärt werden. Dies könnte z.B. durch eine repräsentative Umfrage bei Verschreibern durch Swissmedic oder eine Forschungsgruppe, die auf Umfragen spezialisiert ist, geschehen.

 

agfam: Was lösen diese Resultate bei euch aus, als Frauen und Apothekerinnen?

 

MR: Betroffenheit. Als Frau bin ich betroffen vom Schicksal derjenigen, die nicht adäquat aufgeklärt wurden und bei denen es eine sicherere medikamentöse Alternative gegeben hätte. Die sich also nachher lebenslänglich sagen müssen «unser Leid hätte man potentiell verhindern können».  Als Apothekerin, dass diese Frauen nicht adäquat aufgeklärt wurden von Medizinalpersonen, obschon das Risiko des Valproatgebrauchs während der Schwangerschaft seit Jahrzehnten bekannt ist.

 

JS: dem schliesse ich mich absolut an. Auch wenn wir die genauen Hintergründe zu den Verschreibungen nicht kennen, so lösen die bekannten Einzelschicksale schon grosse Betroffenheit aus und man fragt sich wie es so weit gekommen ist. Es haben hier offensichtliche einige Sicherheitsmechanismen in unserem Gesundheitswesen versagt.

 

agfam: Was möchtet Ihr den Offizin-Apotheker*innen mitgeben für die Beratung im Offizinalltag? 

 

MR und JS: Als wichtigster Punkt erachten wir das Bewusstsein von Apotheker*innen, dass jede Frau im gebärfähigen Alter (und das gebärfähige Alter ist ein grosser Altersbereich…!), jederzeit schwanger werden kann oder bereits schwanger sein könnte. Wenn man Frauen im gebärfähigen Alter behandelt, sollte man dies als Apotheker*in stets im Hinterkopf haben, und gerade bei Medikamenten mit bekanntem teratogenem Potential sollte man lieber einmal zu viel als einmal zu wenig aufklären. 

 

In der Schweiz wurde im Dezember 2018 ein Schwangerschaftsverhütungsprogramm eingeführt für Mädchen und Frauen, die mit Valproat behandelt werden [RMS1]. In diesem Programm spielt auch die Apotheke eine zentrale Rolle. Aus diversen Gesprächen mit Offizinapotheker*innen haben wir jedoch erfahren, dass dieses Programm seinen Weg in die Praxis vielerorts noch nicht gefunden hat. Da wurde wohl auch von behördlicher Seite zu wenig informiert.

 

Gemäss dem Schwangerschaftsverhütungsprogramm muss eine Valproat-Therapie bei Frauen im gebärfähigen Alter durch eine/n Fachärztin/Facharzt eingeleitet werden, nachdem die Patientin die offizielle Patienteninformationsbroschüre zur Behandlung mit Valproat erhalten hat und eine Schwangerschaft (mittels Plasma-Schwangerschaftstest) ausgeschlossen wurde. Der/die behandelnde Arzt/Ärztin und die betroffene Patientin müssen jährlich in einem von Swissmedic aufgesetzten Formular bestätigen, dass eine Risikoaufklärung stattgefunden hat und dass eine zuverlässige Verhütungsmethode angewendet wird. Eine Kopie dieses Formulars muss dem/r dispensierenden Apotheker/in abgegeben werden. Der/die dispensierende Apotheker/in ist verpflichtet, Valproat in der Originalverpackung mit aussen angebrachtem Warnhinweis (seit 2017 auf jeder Valproat Packung angebracht) abzugeben, oder die Warnung entsprechend auf einem Dosett/Blister anzubringen. Zudem muss bei jeder Abgabe die offizielle Patientenkarte  [RMS2] (sollte in jeder Apotheke vorliegen) vorgelegt werden, und der/die Apotheker/in muss sicherstellen, dass die Patientin (oder ggf. ihre gesetzliche Vertretungsperson) den Inhalt der Patientenkarte versteht. Insbesondere muss die Notwendigkeit einer zuverlässigen Verhütungsmethode abgeklärt werden. Zudem muss die Patientin darauf hingewiesen werden, im Falle einer (vermuteten) Schwangerschaft die Therapie nicht ohne ärztliche Absprache abzubrechen.  

 

Zusammengefasst kann also das Dilemma, eine teratogene Substanz aus Versehen während der Schwangerschaft einzunehmen, durch folgende Punkte vermieden werden: die Frau wird ausführlich über das Risiko des Medikaments aufgeklärt. Hierzu sollte das Ausmass der Risiken klar kommuniziert werden, damit sich jede Frau ein klares Bild machen kann. Auf Valproat bezogen, könnte dies lauten «Laut Studien erleiden 10-20% der Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft Valproat einnehmen, Fehlbildungen. Diese Fehlbildungen umfassen zum Beispiel Neuralrohrdefekte, Herzfehler, Fehlbildungen in den Extremitäten oder Lippen-Kiefer-Gaumenspalten. Zusätzlich geht man davon aus, dass bis zu 30-40% der betroffenen Kinder Entwicklungsstörungen aufweist». Solche vertrauenswürdige und für Fachpersonen einfach zusammengefasste Daten findet man übrigens kostenlos z.B. auf den Websites «embryotox.de» oder «lecrat.fr». 

 

Weiter sollte unbedingt eine sichere Verhütungsmethode, wenn möglich immer eine doppelte Verhütungsmethode, eine davon anwenderunabhängig (z.B. Spirale, Hormonstäbchen etc.) und eine Barrieremethode (z.B. Kondom) gleichzeitig angewendet werden. Dies sollte bereits ab einem Monat vor dem Start der Einnahme des teratogenen Arzneimittels, durchgehend während der gesamten Anwendungsdauer und bis genügend lange nach der Behandlung (bei Valproat bedeutet dies, zuerst auf eine sicherere Therapiealternative umzustellen sofern klinisch möglich, bevor die Verhütungsmethode abgesetzt wird). Dies tönt jetzt alles so kompliziert, aber schlussendlich haben wir in der Apotheke die Hilfe des Computersystems, in welchem wir Checklisten für alle teratogenen Medikamente hinterlegen können als Hilfestellung, damit diese wichtigen Fragen und Hinweise bei Frauen im gebärfähigen Alter nicht vergessen werden. Ein Beispiel einer solchen Checkliste, wie sie für die Valproatabgabe an Frauen im gebärfähigen Alter aussehen könnte, hat Julia Spoendlin letztes Jahr in einem  i.m@il Offizin Artikel veröffentlicht.

 

Damit auch die Pharma-AssistentInnen sensibilisiert sind, bietet agfam den Kurs «Medikamente in der Schwangerschaft – Chancen und Grenzen» mit Dr. med. Antje Heck an.

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1) Spoendlin Julia et al. Use of valproate in pregnancy und in women of childbearing age between 2014 and 2018 in Switzerland: a retrospective analysis of Swiss healthcare claims data, Swiss Medical Weekly, 2021;151:w20386, www.smw.ch

2)Dr. Julia Spöndlin, Valproat während der Schwangerschaft, i.m@il Offizin Nr.14/31.07.20

 

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